Wie Märchen auf uns wirken

 

„Nicht wir deuten das Märchen, das Märchen deutet uns.“ (Franz Vonessen)

 

„Es war einmal“, so beginnen die meisten Märchen, sie führen uns scheinbar in jene ferne Epoche, in der wundersame Dinge geschehen, in der zauberhafte Wesen, Zwerge, Feen, Hexen, Drachen existieren, in der der Schweinehirt König wird und die Prinzessin heiratet. Das Märchen öffnet die Türe zur Welt des Wunderbaren und Verwunschenen, eine Welt, in der man das Wasser des Lebens findet, in der Teppiche fliegen, und in der ein Ring Dämonen herbeizitiert, die alle Wünsche erfüllen.

 

Die meisten Menschen, weltweit, kennen Märchen. Wir sind mit ihnen aufgewachsen und erzählen sie unseren Kindern. Warum erzählen oder lesen wir Märchen vor? Und warum wirken sie noch immer, nach vielen Jahrhunderten, Jahrtausenden? Leben wir nicht in einer aufgeklärten Zeit, die dank Wissenschaft und Fortschritt nicht auf Wunder- und Wunschgeschichten angewiesen ist?

 

Warum erzählen wir also? Weil der Mensch, wie vor tausend und mehr Jahren, die immer gleichen unerklärlichen Stadien von Geburt, Liebe und Tod durchlebt. Und weil, und daran können Fortschritt und Technik nichts ändern, Sehnsucht und Angst Grundelemente menschlicher Existenz sind.

 

Die Nöte des Wachsens und Reifens (Kindheit, Pubertät, Heirat, Altern) spiegeln sich im Märchen. Was wir und unsere Kinder logisch nicht verstehen, wie Liebe und Trennung, unerklärliche Sehnsucht und Bedrückung, durchleben wir im Märchens gleichsam neu und auf einer anderen Ebene. Geleitet von der in der menschlichen Evolution gewachsenen Bildsprache lösen sich, unbewusst und halbbewusst, unsere seelischen Konflikte, der Blick weitet sich, wir gewinnen eine neue Perspektive und die Seele findet Trost, Halt und Hoffnung.

 

Im Märchen sind archaische Sinn- und Seelenbilder zu einer Geschichte verwoben, welche einen Spiegel der inneren menschlichen Entwicklung darstellt.

 

So leben die Märchen solange die Menschen leben.

 

 

Sterntaler oder Danae?

 

 

Die Büffelkuh und das Fischlein

Einmal kam eine große, große Büffelkuh an ein kleines Bächlein um zu trinken; sie hatte einen unersättlichen Durst und soff ohne Aufhören.
In dem Bächlein aber wohnte ein klein winziges Fischlein. Das war immer sehr lustig, hüpfte und sprang und spielte mit den glitzerigen Steinchen.
Es fürchtete nun, die Büffelkuh werde ihm das Wasser alles saufen und rief ihr zu: „Warum säufst du so viel? Soll ich hier auf trockenem Sande bleiben und umkommen? Höre auf, nicht dass ich über dich komme!"
Aber die Büffelkuh spottete und brummte: „Boah! Du kleiner Schnips, ich werde mich gleich vor dir fürchten! Sorge, dass ich dich nicht verschlinge'" und soff fort und fort, bis kein Wasser im Bächlein war.
Da ward das Fischlein sehr, sehr zor­nig, sprang heraus und verschlang mit einemmal das ganze große Tier.

Nicht wahr, es geschah der Büffelkuh recht? Warum hat sie dem armen Fischlein alles Wasser gesoffen und hat es dazu noch verspottet?

(Quelle: Josef Haltrich „Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen“)